Gedichte im Islam
Die Zipresse von Keschem

von
Friedrich Rückert

Bei Keschem eine Zipresse stand,
Ein Wunder im choraßanischen Land,
Seit König Kischtab’s Tagen
Hat sie dort Wuzel geschlagen.

Sie ist der allerälteste Baum
Und allerhöchste im weiten Raum;
Ihr Ruhm ist weit erschollen,
Das hat sie büßen sollen.

In Bagdad der Chalifenstadt
Der Chalif Mutawakkil hat
Auch von der Zipresse vernommen,
Die viele zu sehen kommen.

Da wollt’ er auch die Zipressen sehn,
Doch nicht deswegen aus Bagdad gehen;
Er befahl sie abzuschlagen
Und sie ihm herzutragen.

Da ward die Zipresse umgehaun,
Damit der Chalife sie könnte schaun;
Sie tröstete sich im Sterben
Die Ehre zu erwerben.

Was war die Ehre, die sie erwarb?
Eh sie kam, der Chalife starb;
Da gieng mit seiner Leiche
Der schönste Baum im Reiche.

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

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