Gedichte im Islam
Idris

von
Friedrich Rückert

Wisset ihr, wie Idris = Enoch
Eingang fand lebend’gen Leibes
Dort, wo einging Keiner je noch,
Den gebar der Schoß des Weibes?

Idris war der erste Schneider,
Wie der erste Schriftgelehrte;
Jeden Tag macht er drei Kleider,
Die den Nachbarn er verehrte.

Jede Nacht schrieb er drei Bücher,
Die er Schülern gab am Morgen;
Seine Schriften, seine Bücher
Konnten Groß und Klein versorgen.

Abends kam ein Himmelsbote,
Dass der Mann nicht hungers starb,
Und verfolgte ihn mit Brote,
Das er selber nicht erwarb.

Sprach er zu ihm: „Freund der Frommen,
Wie dein Ram’ auch heißen mag,
Willst du mit spazieren kommen?
Denn heut ist ein Feiertag.“

Und zusammen gehen sie wacker,
Doch der Gast hat sich gebückt,
Im Vorübergehn am Acker
Reife Ähren abgepflückt.

Und es ist, als ob die Halmen
Seufzen in der Todesstunde,
Wie er will die Körner malmen
Mit dem stumpfen Zahn im Munde.

Idris nach dem Gaste spähet,
Und verwundert spricht er so:
„Himmelsbrot hast du verschmähet,
Und nun kaust du Körner roh.“

Spricht der Gast: „Das Brot des Lebens
Darf ich nicht entziehn den Frommen;
Doch die Ähre seufzt vergebens,
Deren Stunde ist gekommen.“

„Und du bist?“ „Nicht mehr verholen
Ist es dir, der Tod bin ich.“
„Und du kamst mich abholen?
Oder zu besuchen mich?“

„Heut’ kam ich nur zum Besuch,
Und mich hat statt Brot gelabt
Deiner Frömmigkeit Geruch,
Doch nun sei von mir begabt.

Denn für dich zu Gastgeschenken
Gab mir Gott drei Wünsche mit;
Säume nicht, dich zu bedenken,
Eh ich meiner Wege schritt.

Denn es warten aller Orten
Die und jene schon auf mich;
Heute hol’ ich jene dorten,
Und ein andermal hier dich.“

Idris hat sich schnell bedacht:
„Gib mir, Bruder, deinen Kuss,
So dass ich, vom Tod erwacht,
Gott neu lebend preisen muss.“

Bon dent Kusse sinkt er nieder,
Und durch Gottes Gnadenhauch
Steht er auf zum Leben wieder,
Und den Tod selbst freut es auch.

„Wie hast du den Kelch befunden?“
„Bittrer, als ich mir’s gedacht,
Bitter so, dass süßer munden
Er mir nun das Leben macht.

Und ich schwöre, dass im Leben
Ich nicht wieder sterben will.
Doch den zweiten Wunsch hör’ eben,
Den ich jezo werden will:

Lass mich schauen von der Mauer
In den Ort der Buß und Bein,
In die Trauer, in die Schauer
Der verlornen Schaar hinein;

Dass ich möge freud’ger preisen
Überschwang von Gottes Gnaden
Rach gesehen Beweisen
Wie auch kann sein Zorn beladen.“

Und der Tod, er lässt ihn blicken
In den dunklen Aufenthalt,
Wo nicht Wärm’ noch Frucht erquicken,
Hier zu heiß und dort zu kalt;

Wo die Joche, wo die Ketten
Schuld’ge Nacken schwer belasten,
Und die Dornen und die Kletten
Schlimme Betten sind zum Rasten.

Er hat genug geseh’n.
„Höre nun die letzte Bitte!
Lass durch’s Paradies uns geh’n,
Selig durch der Sel’gen Mitte.“

Und sie wandeln durch den Garten,
Unter dem die Ströme fließen,
Wo die Früchte aller Arten,
Wie sie jeder wünscht, ersprießen;

Wo die Quellen Schlummer rauschen,
Und die Schatten Ruhe hauchen,
Wo die Weine nicht berauschen,
Und die Wonnen nicht verrauchen.

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

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