Gedichte im Islam
Stab Moses'

von
Friedrich Rückert

Als Moses nach Ägypten floh, wo er den Mann erschlagen,
Kam er zum Lande Midian, wo er ein Weib erdiente.
Und als er in die Wüste nun die Herde treiben sollte
Und eines Stabs bedurfte, sprach zu ihm Schoaib, sein Schwäher:
„Die Stäbe stehen dir zur Wahl, die größeren Hier und kleinern,
Die schwächern und die stärkeren, den einen ausgenommen,
Der hinten in der Ecke steht, bestäubt und übersponnen,
Den hat ein unbekannter Mann, ein Fremder, hingestellet,
Dass er hier aufbewahret sei, bis seinen Herrn er fände,
Und seitdem steht er unberührt von mir dort und den Meinen.“
Der Hirte probt die Stäbe, und keiner will ihm passen,
Bis er zu dem der Ecke kommt, dem staubig überwebten,
Der passt gerad’ ihm in die Hand, mit dem geht er von hinnen.
Als nun Schoaib die Stäbe zählt, vermisset er den fremden,
Das seiner Hand vertraute gut, und zürnt dem Schwiegersohne.
Er eilt ihm nach, und ungestüm heischt er den Stab zurücke,
Doch der hält eigensinnig fest den auserkornen Stecken.
Mit Händen statt mit Worten will Schoaib das Pfand entwinden.
Doch sieh, ein unbekannter Mann, ein Fremder, kommt gegangen;
Der soll im Streit Schiedsrichter sein, als solcher sprach er also:
„Legt auf den Boden hin den Stab, und wer vor meinen Augen
Ihn mit der Hand aufheben kann, der ist der Herr Des Stabes.“
Als nun der Stab am Boden lag, versucht ihn aufzuheben
Zuerst Schoaib und konnt’ es nicht, er musst’ ihn liegen lassen.
Mit leichter Müh’ darauf erhob den Stab vom Boden Moses,
Und eilte, seines Sieges froh, der Herde nach zur Wüste.
Der Unbekannte aber sprach: „Schoaib kennst du mich wieder?
Ich habe dir den Stab vertraut, den du bewahren Solltest,
Bis einst er seinen Herren fänd’, er hat ihn nun gefunden.
Vom Paradiesesgrenzebaum, dem heil’gen Stamme Sidra,
brach Adam diesen Zweig, als er von dort auswandern musste,
Und von dem Stab gestärkt, ging er bis an sein Grab durch’s Leben.
Der war bestimmt, zum Wanderstab in Mosis Hand Zu werden;
Mit dem er jetzt nur Wölfe scheucht, wenn sie der Herde drohen,
Und Laub von Bäumen schlägt, wenn ihr Boden Futter fehlet,
Mit diesem Stab wird er einst, indem er wird zur Schlange,
Den Hochmut schlagen Pharaos und seiner Zaub’rer Zauber;
Mit diesem Stabe wird er bald die Herde seines Volkes
Frei führen aus des Zwanges Haft und durch des Meeres Fluten ,
In Wüsten schlagen ihrem Durst Erquickung aus dem Felsen,
Nachdem er schlug der feinde Land mit siebenfacher Plage.“

von Friedrich Rückert aus
Sieben Bücher morgenländischer Sagen und Geschichten", Stuttgart 1837

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