Gedichte im Islam
Arten und Stadien der menschlichen Schöpfung von Anfang an

von Dschalaleddin Rumi

übersetzt von Prof. Annemarie Schimmel

Er kam zunächst in unbelebte Zonen,
um später in der Pflanzenwelt zu wohnen.
Als Pflanze lebte er in langen Jahren,
und er vergaß, was er als Stein erfahren.
Wenn er von Pflanzen sich zum Tier begeben,
vergisst er ganz das früh‘re Pflanzenleben.
Nur eine Neigung ihn damit verbindet,
im Lenz vor allem, wenn er Kräuter findet,
wie sich das Kind nicht von der Mutter trennt,
wenn‘s auch der Neigung innern Grund nicht kennt,
und wie der neue Jünger liebt so sehr
den Meister, seinen Leiter, rein und hehr.
Vom Urverstand ist er nur Teilgedanken,
vom Rosenzweig stammt jenes Schattens Schwanken.
In ihm wird einst der Schatten ganz verschwinden,
Geheimnis seines Suchens wird er finden.
Wie, dass des Zweiges Schattens sich bewegte,
oh holder Freund, wenn nicht der Baum sich regte?
Zum Menschentum führt ihn sodann vom Tier
der große Schöpfer, der bekannt auch dir.
So zog von einem er ins andre Land,
bis stark er ward, mit Wissen und Verstand.
Die ersten Seelen kann er nicht mehr kennen —
er muss sich auch von dieser Seele trennen,
Dass er dem gierigen Verstand entgehe,
und den Verstand, den wundervollen, sehe.

Wenn er auch schläft und hat, was war, vergessen
wie ließen sie ihn so im Selbst-Vergessen?
Sie sorgen, dass er aus dem Schlaf erwacht,
dass seinen jetzt'gen Zustand er verlacht:
«Was tut's, was ich im Schlaf erlebt, gegessen?
Wie konnte ich die Wahrheit so vergessen?
Und wusste nicht, dass Leid und aller Kummer
nur Täuschung ist und Traum, bewirkt vom Schlummer?»
Ein Traum des Schläfers ist die ganze Welt,
den jeder Schläfer doch für ewig hält.
Bis plötzlich strahlt des Todes Morgenzeit,
die ihn von Traum und falschem Wahn befreit,
Und über seine Sorgen lacht er laut,
sobald er seinen Ruheplatz erschaut.
Was du im Schlafe gut und schlecht gesehn,
am Jüngsten Tage wird es vor dir stehn.
Was du im Schlafe dieser Welt auch machst:
es wird dir klar sein, wenn du erst erwachst.
Du darfst nicht denken, schlechte Taten wären
es nur im Schlaf, und gar nicht zu erklären!
Dein Lachen wird zu Wehgeschrei sodann
am Tage der Erklärung, o Tyrann!
Dein Schmerz und Leid, dein Kummer, deine Sorgen -
sie werden Freude am Erwachensmorgen!

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