Entspricht Menschlichkeit einer Überkonstruktion?
Wir wissen, dass der Mensch eine Art Tier
ist und daher viele Gemeinsamkeiten mit den anderen Kreaturen
hat, von denen er sich aber gleichzeitig durch eine Reihe von
grundlegenden Vorzügen unterscheidet. All seine
Gemeinsamkeiten mit den Tieren und all seine Pluspunkte ihnen
gegenüber haben zu der Annahme geführt, dass der Mensch zwei
Leben habe, ein tierisches und ein menschliches; mit anderen
Worten, ein Leben materieller und ein Leben kultureller Art.
Hier steht ein Problem zur Diskussion:
Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Animalischen des
Menschen und seiner Menschlichkeit, zwischen seinem tierischen
Leben und seinem menschlichen, zwischen seinem materiellen,
seinem kulturellen und seinem geistigen Leben, ist das eine
der Ursprung und das andere die Folge, ist das eine ursächlich
und das andere die Reflexion, ist das eine Grundkonstruktion,
das andere Aufbau, ist das materielle Leben die Basis, das
kulturelle Leben darauf aufgebaut, ist das Animalische des
Menschen das Fundament, seine Menschlichkeit dagegen der
Aufbau?
Das, worüber heute diskutiert werden soll,
hat einen Gesellschaftlichen Aspekt, keinen psychologischen.
Das Thema soll aus der Perspektive der Soziologie behandelt
werden, nicht aus dem Blickwinkel der Psychologie. Daher wird
die Diskussion an folgenden Fragestellungen orientiert:
An diesen Fragestellungen wird die
Diskussion orientiert. Aber ob man es will oder nicht, diese
Debatte der Sozialkunde findet eine psychologische Folgerung
und weitet sich aus zu einer philosophischen Diskussion über
den Menschen, hinsichtlich seiner Wesensveranlagung und seiner
Realität, heute unter der Überschrift: “Echtheit des Menschen
oder Humanismus.“ Und es wird gefolgert, dass die
Menschlichkeit des Menschen nicht echt sei, obwohl aber seine
Anomalität vorhanden sei. So sei im Menschen eine Veranlagung
namens Menschlichkeit, die seiner Tierhaftigkeit widerspreche,
nicht wirklich vorhanden. Jene Behauptung würde besagen, dass
die Meinung derjenigen bestätigt wird, die keinen wesentlichen
Unterschied zwischen Mensch und Tier eingestehen. Diese
Theorie verneint nicht nur die Echtheit menschlicher
Neigungen, wie das Streben nach Wahrheit, Güte, Schönheit und
Gott, sondern auch die Echtheit des menschlichen Interesses an
der Realität hinsichtlich der Wirklichkeit, aus menschlicher
Sicht. Denn keine Ansicht könne demnach nur unparteiische
Betrachtungsweise sein, sie sei nichts weiter als die
Widerspiegelung eines speziellen, materiellen Interesses.
Merkwürdig ist nur, dass einige dieser Lehren, die diese
Meinung vertreten, gleichzeitig von Menschlichkeit,
menschlichen Neigungen und Humanismus sprechen.
Die Wahrheit ist, dass die Evolution des
Menschen bei der Anomalität beginnt und zur vollkommenen
Menschlichkeit gelangt. Diese Tatsache entspricht der
Wahrheit, sowohl Bezüglich des Individuums, als auch der
Gesellschaft.
Am Anfang seines Daseins ist der Mensch
ein materieller Körper. Im Verlaufe der fortschreitenden
Entwicklung verwandelt sich sein Wesen zu Geist oder zu einem
geistlichen Wesen. Die Seele des Menschen wird im Schoße des
Körpers geboren, vervollkommnet sich und erreicht
Selbstständigkeit.
Die Tierhaftigkeit des Menschen dient als Nest oder Bau, in
dem seine Menschlichkeit heranwächst und sich entwickelt.
Ebenso, wie es der Eigenart der Evolution
entspricht, dass das sich entwickelnde Geschöpf im gleichen
Verhältnis zu seiner Entwicklung selbstständig wird, sich
selbst in Gewalt hat und sein Milieu beeinflusst und
beherrscht, vervollkommnet sich dementsprechend die
Menschlichkeit des Menschen, sei es das Individuum oder die
Gesellschaft. Der Mensch schreitet voran in der Unabhängigkeit
und der Souveränität von anderen Ansichten. Ein entwickelter
Mensch ist derjenige, der das eigene innere und äußere Milieu
relativ beherrscht, ein gereiftes Individuum, das sich von den
inneren und äußeren Zwängen befreit hat und verbunden ist mit
Überzeugungen und Glauben. Auch die gesellschaftliche
Entwicklung geschieht in der gleichen Art und Weise, in der
sich die Seele im Schoße des Körpers und die Menschlichkeit
des einzelnen im Schoße seines animalischen Daseins vollenden.
Der Keim der menschlichen Gesellschaft trägt überwiegend
wirtschaftliche Wesenzüge, wogegen die kulturellen und
geistigen Eigenschaften dem gesellschaftlichen Geist
entsprechen.
So, wie zwischen Körper und Seele eine
gegenseitige Wirkung besteht,
so existiert auch zwischen dem Geist und der Struktur der
Gesellschaft, das heißt, zwischen ihren geistigen und
materiellen Wesenszügen, eine Wechselbeziehung. Genauso, wie
der Entwicklungsvorgang des einzelnen zu Freiheit,
Unabhängigkeit und mehr Souveränität des Geistes verläuft,
verhält sich auch der gesellschaftliche Entwicklungsprozess.
Je intensiver sich die menschliche Gesellschaft entwickelt,
umso stärker wird ihr kulturelles Leben, ihre Unabhängigkeit
und ihre Souveränität das materielle beherrschen. Der Mensch
der Zukunft ist ein kulturelles Wesen, kein wirtschaftliches.
Der zukünftige Mensch ist ein Mensch mit Überzeugung, Glauben
und Prinzipien, kein Mensch des Bauches und des Schoßes.
Selbstverständlich bedeutet das nicht,
dass die menschliche Gesellschaft sich nun machtvoll,
unablässig, Schritt für Schritt und auf direktem Wege den
absoluten, menschlichen Werten nähert. Und es heißt auch
nicht, dass sie sich mit jeder neuen Epoche ständig weiter
entwickelt und der vergangenen kontinuierlich immer einen
Schritt voraus ist. Es ist durchaus möglich, dass sich im
gesellschaftlichen Leben der Menschheit eine Periode ereignet,
in der die Menschheit sich, trotz aller technischer
Fortschritte, hinsichtlich ihrer geistigen Entwicklung, welche
sie in ihrer Vergangenheit vollzogen hat, um eine oder mehrere
Epochen zurückentwickelt, so, wie es heutzutage von der
Menschheit unseres Jahrhunderts behauptet werden kann.
Wir wollen damit sagen, dass die
menschliche Entwicklung in ihrem gesamten Verlauf, sowohl aus
materieller als auch aus geistiger Sicht, eine fortschreitende
Tendenz aufweist, jedoch die geistige Entwicklung keinesfalls
ein Geschehnis kontinuierlich geradliniger Art ist. Sie ist
eine Bewegung mit zeitweiligen Abweichungen nach rechts und
links, eine Bewegung, die begleitet ist von Stillständen und,
von Zeit zu Zeit, sogar von Rückschritten. Doch insgesamt ist
sie in fortschreitender und vervollkommnender Art zu sehen.
Aus diesem Grunde sagen wir, dass der Mensch der Zukunft ein
kulturelles Wesen ist, kein wirtschaftliches.
Der Mensch der Zukunft ist ein Mensch mit
Überzeugung und Glauben, nicht ein Mensch des Bauches und des
Schoßes. Gemäß dieser Theorie hat sich der menschliche
Charakter des Menschen, aufgrund seiner Echtheit, parallel, ja
sogar vor seinen Produktionsmitteln, vervollkommnet. Unter der
Einwirkung seiner Entwicklung verringerte sich nach und nach
seine Abhängigkeit und Beeinflussbarkeit von seinem
natürlichen und sozialen Milieu. Durch seine Befreiung, die
parallel einhergeht zu seiner engen Beziehung zu Überzeugung,
Wunsch, Prinzip und Ideologie und ebenso zu der Zunahme der
Beeinflussung der natürlichen und sozialen Umwelt seinerseits,
wird er in der Zukunft, so weit wie möglich, die völlige
geistige Freiheit erreichen, das heißt, er wird unabhängig
werden und sich ausschließlich von seiner Überzeugung, seinem
Glauben und seiner Ideologie leiten lassen.
In der Vergangenheit war der Mensch,
aufgrund dessen, dass er die Gaben der Natur und seines
Daseins wenig nutzte, mehr Gefangener und Sklave der Natur und
seiner eigenen Triebe. Sobald aber der Mensch die Gaben der
Natur und seines Daseins besser nutzt, wird er sich umso mehr
von den Fesseln der Natur befreien können und zur Souveränität
über sich selbst und über die Natur gelangen.
Gemäß dieser Auffassung ist die
menschliche Realität keinesfalls Schatten, Reflexion und Folge
der materiellen Entwicklung, so sehr sie auch parallel zu oder
im Gewande der anomalen und materiellen Evolution in
Erscheinung treten mag. Sie ist selbst eine Tatsache,
selbstständig und sich vollendend. Ebenso, wie sie unter dem
Einfluss materieller Wesenszüge steht, beeinflusst sie diese
auch ihrerseits. Bestimmend für das endgültige Geschick des
Menschen sind seine selbstständig veranlagte, menschliche
Wirklichkeit, nicht der Evolutionsprozess seiner
Produktionswerkzeuge.
Es ist nicht so, dass sich die
Produktionsmittel von selbst weiterentwickeln und die
Menschlichkeit des Menschen automatischen Veränderungen und
Verbesserungen ausgesetzt ist, wie die Richtlinien eines
Herstellungsprinzips. Deswegen gibt es die Bezeichnung
“Entwicklung“, weil diese die Richtlinien zu einem weiter
entwickelten Produktionssystem setzt.