Mensch u. Glaube

Mensch und Glaube

Ayatollah Morteza Motahhari

Inhaltsverzeichnis

Entspricht Menschlichkeit einer Überkonstruktion?

Wir wissen, dass der Mensch eine Art Tier ist und daher viele Gemeinsamkeiten mit den anderen Kreaturen hat, von denen er sich aber gleichzeitig durch eine Reihe von grundlegenden Vorzügen unterscheidet. All seine Gemeinsamkeiten mit den Tieren und all seine Pluspunkte ihnen gegenüber haben zu der Annahme geführt, dass der Mensch zwei Leben habe, ein tierisches und ein menschliches; mit anderen Worten, ein Leben materieller und ein Leben kultureller Art.

Hier steht ein Problem zur Diskussion: Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Animalischen des Menschen und seiner Menschlichkeit, zwischen seinem tierischen Leben und seinem menschlichen, zwischen seinem materiellen, seinem kulturellen und seinem geistigen Leben, ist das eine der Ursprung und das andere die Folge, ist das eine ursächlich und das andere die Reflexion, ist das eine Grundkonstruktion, das andere Aufbau, ist das materielle Leben die Basis, das kulturelle Leben darauf aufgebaut, ist das Animalische des Menschen das Fundament, seine Menschlichkeit dagegen der Aufbau?

Das, worüber heute diskutiert werden soll[1], hat einen Gesellschaftlichen Aspekt, keinen psychologischen. Das Thema soll aus der Perspektive der Soziologie behandelt werden, nicht aus dem Blickwinkel der Psychologie. Daher wird die Diskussion an folgenden Fragestellungen orientiert:

bulletSind die Wissenschaftsstrukturen, welche abhängig sind von der Produktion und produktiven Verbindungen, die Basis und die Grundlage aller Gesellschaftsformen?
bulletSind die anderen Sozialstrukturen, insbesondere die, in denen die Menschlichkeit des Menschen sichtbar werden, die Folge, der Aufbau und die Reflexion wirtschaftlicher Gegebenheiten?
bulletWaren die Wissenschaft, Philosophie, Literatur, Religion, Rechtskunde, Ethik und Kunst einer jeden Epoche die Begleiterscheinungen wirtschaftlicher Realitäten, hatten sie niemals Eigenständigkeit?

An diesen Fragestellungen wird die Diskussion orientiert. Aber ob man es will oder nicht, diese Debatte der Sozialkunde findet eine psychologische Folgerung und weitet sich aus zu einer philosophischen Diskussion über den Menschen, hinsichtlich seiner Wesensveranlagung und seiner Realität, heute unter der Überschrift: “Echtheit des Menschen oder Humanismus.“ Und es wird gefolgert, dass die Menschlichkeit des Menschen nicht echt sei, obwohl aber seine Anomalität vorhanden sei. So sei im Menschen eine Veranlagung namens Menschlichkeit, die seiner Tierhaftigkeit widerspreche, nicht wirklich vorhanden. Jene Behauptung würde besagen, dass die Meinung derjenigen bestätigt wird, die keinen wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier eingestehen. Diese Theorie verneint nicht nur die Echtheit menschlicher Neigungen, wie das Streben nach Wahrheit, Güte, Schönheit und Gott, sondern auch die Echtheit des menschlichen Interesses an der Realität hinsichtlich der Wirklichkeit, aus menschlicher Sicht. Denn keine Ansicht könne demnach nur unparteiische Betrachtungsweise sein, sie sei nichts weiter als die Widerspiegelung eines speziellen, materiellen Interesses. Merkwürdig ist nur, dass einige dieser Lehren, die diese Meinung vertreten, gleichzeitig von Menschlichkeit, menschlichen Neigungen und Humanismus sprechen.

Die Wahrheit ist, dass die Evolution des Menschen bei der Anomalität beginnt und zur vollkommenen Menschlichkeit gelangt. Diese Tatsache entspricht der Wahrheit, sowohl Bezüglich des Individuums, als auch der Gesellschaft.

Am Anfang seines Daseins ist der Mensch ein materieller Körper. Im Verlaufe der fortschreitenden Entwicklung verwandelt sich sein Wesen zu Geist oder zu einem geistlichen Wesen. Die Seele des Menschen wird im Schoße des Körpers geboren, vervollkommnet sich und erreicht Selbstständigkeit[2]. Die Tierhaftigkeit des Menschen dient als Nest oder Bau, in dem seine Menschlichkeit heranwächst und sich entwickelt.

Ebenso, wie es der Eigenart der Evolution entspricht, dass das sich entwickelnde Geschöpf im gleichen Verhältnis zu seiner Entwicklung selbstständig wird, sich selbst in Gewalt hat und sein Milieu beeinflusst und beherrscht, vervollkommnet sich dementsprechend die Menschlichkeit des Menschen, sei es das Individuum oder die Gesellschaft. Der Mensch schreitet voran in der Unabhängigkeit und der Souveränität von anderen Ansichten. Ein entwickelter Mensch ist derjenige, der das eigene innere und äußere Milieu relativ beherrscht, ein gereiftes Individuum, das sich von den inneren und äußeren Zwängen befreit hat und verbunden ist mit Überzeugungen und Glauben. Auch die gesellschaftliche Entwicklung geschieht in der gleichen Art und Weise, in der sich die Seele im Schoße des Körpers und die Menschlichkeit des einzelnen im Schoße seines animalischen Daseins vollenden. Der Keim der menschlichen Gesellschaft trägt überwiegend wirtschaftliche Wesenzüge, wogegen die kulturellen und geistigen Eigenschaften dem gesellschaftlichen Geist entsprechen.

So, wie zwischen Körper und Seele eine gegenseitige Wirkung besteht[3], so existiert auch zwischen dem Geist und der Struktur der Gesellschaft, das heißt, zwischen ihren geistigen und materiellen Wesenszügen, eine Wechselbeziehung. Genauso, wie der Entwicklungsvorgang des einzelnen zu Freiheit, Unabhängigkeit und mehr Souveränität des Geistes verläuft, verhält sich auch der gesellschaftliche Entwicklungsprozess. Je intensiver sich die menschliche Gesellschaft entwickelt, umso stärker wird ihr kulturelles Leben, ihre Unabhängigkeit und ihre Souveränität das materielle beherrschen. Der Mensch der Zukunft ist ein kulturelles Wesen, kein wirtschaftliches. Der zukünftige Mensch ist ein Mensch mit Überzeugung, Glauben und Prinzipien, kein Mensch des Bauches und des Schoßes.

Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass die menschliche Gesellschaft sich nun machtvoll, unablässig, Schritt für Schritt und auf direktem Wege den absoluten, menschlichen Werten nähert. Und es heißt auch nicht, dass sie sich mit jeder neuen Epoche ständig weiter entwickelt und der vergangenen kontinuierlich immer einen Schritt voraus ist. Es ist durchaus möglich, dass sich im gesellschaftlichen Leben der Menschheit eine Periode ereignet, in der die Menschheit sich, trotz aller technischer Fortschritte, hinsichtlich ihrer geistigen Entwicklung, welche sie in ihrer Vergangenheit vollzogen hat, um eine oder mehrere Epochen zurückentwickelt, so, wie es heutzutage von der Menschheit unseres Jahrhunderts behauptet werden kann.

Wir wollen damit sagen, dass die menschliche Entwicklung in ihrem gesamten Verlauf, sowohl aus materieller als auch aus geistiger Sicht, eine fortschreitende Tendenz aufweist, jedoch die geistige Entwicklung keinesfalls ein Geschehnis kontinuierlich geradliniger Art ist. Sie ist eine Bewegung mit zeitweiligen Abweichungen nach rechts und links, eine Bewegung, die begleitet ist von Stillständen und, von Zeit zu Zeit, sogar von Rückschritten. Doch insgesamt ist sie in fortschreitender und vervollkommnender Art zu sehen. Aus diesem Grunde sagen wir, dass der Mensch der Zukunft ein kulturelles Wesen ist, kein wirtschaftliches.

Der Mensch der Zukunft ist ein Mensch mit Überzeugung und Glauben, nicht ein Mensch des Bauches und des Schoßes. Gemäß dieser Theorie hat sich der menschliche Charakter des Menschen, aufgrund seiner Echtheit, parallel, ja sogar vor seinen Produktionsmitteln, vervollkommnet. Unter der Einwirkung seiner Entwicklung verringerte sich nach und nach seine Abhängigkeit und Beeinflussbarkeit von seinem natürlichen und sozialen Milieu. Durch seine Befreiung, die parallel einhergeht zu seiner engen Beziehung zu Überzeugung, Wunsch, Prinzip und Ideologie und ebenso zu der Zunahme der Beeinflussung der natürlichen und sozialen Umwelt seinerseits, wird er in der Zukunft, so weit wie möglich, die völlige geistige Freiheit erreichen, das heißt, er wird unabhängig werden und sich ausschließlich von seiner Überzeugung, seinem Glauben und seiner Ideologie leiten lassen.

In der Vergangenheit war der Mensch, aufgrund dessen, dass er die Gaben der Natur und seines Daseins wenig nutzte, mehr Gefangener und Sklave der Natur und seiner eigenen Triebe. Sobald aber der Mensch die Gaben der Natur und seines Daseins besser nutzt, wird er sich umso mehr von den Fesseln der Natur befreien können und zur Souveränität über sich selbst und über die Natur gelangen.

Gemäß dieser Auffassung ist die menschliche Realität keinesfalls Schatten, Reflexion und Folge der materiellen Entwicklung, so sehr sie auch parallel zu oder im Gewande der anomalen und materiellen Evolution in Erscheinung treten mag. Sie ist selbst eine Tatsache, selbstständig und sich vollendend. Ebenso, wie sie unter dem Einfluss materieller Wesenszüge steht, beeinflusst sie diese auch ihrerseits. Bestimmend für das endgültige Geschick des Menschen sind seine selbstständig veranlagte, menschliche Wirklichkeit, nicht der Evolutionsprozess seiner Produktionswerkzeuge.

Es ist nicht so, dass sich die Produktionsmittel von selbst weiterentwickeln und die Menschlichkeit des Menschen automatischen Veränderungen und Verbesserungen ausgesetzt ist, wie die Richtlinien eines Herstellungsprinzips. Deswegen gibt es die Bezeichnung “Entwicklung“, weil diese die Richtlinien zu einem weiter entwickelten Produktionssystem setzt.

[1] Derartige Formulierungen im Text gründen auf der Tatsache, dass es sich im Wesentlichen um Vorlesungsabschriften handelt.

[2] Geist Gottes und Seele des Menschen “sitzen“ nach islamischer Vorstellung im spirituellen Herzen des Menschen, getragen vom Körper. Ziel ist es, die Seele im Einklang mit dem Geist Gottes schlagen zu lassen, um göttliche Vervollkommnung zu erreichen.

[3] Gemäß islamischer Philosophie besteht die Wechselbeziehung zwischen Seele und Leib darin, dass Seele und Körper eine Einheit bilden und von einander abhängig sind.

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