Mensch u. Glaube

Mensch und Glaube

Ayatollah Morteza Motahhari

Inhaltsverzeichnis

Gedankliche Irrtümer aus der Sicht des Quran

Der erhabene Qur´an, der zum Überlegen und zum gedanklichen Schlussfolgern auffordert und das Nachdenken als Gottesdienst betrachtet, der eine Glaubensgrundlage nur dann als wahrhaftig anerkennt, wenn sie durch logische Überlegungen erreicht wird, hat auf einen wesentlichen Aspekt aufmerksam gemacht, nämlich den, wodurch die geistigen Irrtümer des Menschen hervorgerufen werden und worin die Hauptursachen seiner Fehltritte und Verirrungen liegen. Was muss der Mensch beachten, wenn er Fehler und Irrtümer wirklich vermeiden und folgerichtig denken möchte?

Im Heiligen Qur´an sind eine Reihe von Handlungen als Ursachen und Gründe von Fehlern und Irrtümern genannt worden, die wir nachfolgend aufführen wollen:

  1. Auf Vermutungen und Annahmen verlassen anstelle von Wissen und Gewissheit

Der Heilige Qur´an meint dazu sinngemäß: Die meisten Menschen werden dich, wenn du ihnen folgen willst, vom rechten Wege abbringen, und zwar deswegen, weil sie von Annahmen und Vermutungen geleitet sind und sich auf Mutmaßungen und Schätzungen verlassen (nicht aber auf Gewissheit)[1]. In vielen Versen zeigt der Heilige Qur´an deutlich seine Ablehnung gegen eine Leitung durch Vermutungen und Annahmen und sagt: „Und verfolge nicht dem, wovon du kein Wissen hast.“ [2] Aus philosophischer Sicht ist es heute unbestreitbar, dass die wesentlichen Fehler- und Irrtumsquellen genau darin liegen.

Ca. 1000 Jahre nach dem Qur´an hat Descartes sein erstes logisches Prinzip aufgestellt, indem er sagte: „Ich erkenne nichts als Tatsache an, es sei denn, dass es für mich unwiderlegbar ist. Ich hüte mich vor überstürzten und voreiligen Auffassungen und Neigungen und akzeptiere nichts als das, was so offenkundig und augenscheinlich ist, dass es über jeden Zweifel erhaben ist.“ [3]

  1. Egoistische Wünsche und Verlangen

Um objektiv urteilen zu können, muss der Mensch bezüglich des Gegenstandes seiner Beurteilung völlig unparteiisch sein. Das heißt, er hat sich nur um die Wahrheit zu bemühen und darf sich nur von Argumenten und Beweisen leiten lassen, ebenso wie ein Richter bei der Studie einer Akte hinsichtlich zweier streitender Parteien völlig neutral sein muss. Sobald der Richter eine persönliche Neigung zu einer der beiden Seiten hat, wird er unbewusst der Argumentation dieser Partei mehr Aufmerksamkeit widmen. Die Beweisgründe der anderen Partei, die dagegen sprechen, werden ganz von allein seinem Augenmerk verfehlen, und genau dieses wird die richterliche Fehlentscheidung begünstigen. Bewahrt ein Mensch in seinen Über­legungen hinsichtlich der Ablehnung oder Bestätigung eines Streitobjektes nicht seine Neutralität, wird er, ohne es selbst zu bemerken, unwillkürlich das Pendel seiner Gedanken in die Richtung seiner Neigungen und Verlangen verschieben.

Deswegen bezeichnet der Heilige Qur´an die Selbstsucht ebenso wie das Verlassen auf Mutmaßungen und Annahmen als eine der Ursachen für Irrtümer. In der Sure Nadschm[4], Vers 23 steht: „Sie folgen nur Vermutungen und dem, wozu ihre Seelen neigen.“

  1. Überstürzung

Zu einer objektiven Beurteilung und Aussage ist ein bestimmtes Maß an Beweisen erforderlich. Solange diese nicht in genügendem Ausmaß vorhanden sind, ist jede entscheidende Äußerung voreilig und verursacht gedankliche Entgleisungen.

Der edle Qur´an weist mehrmals auf die geringe Wissensgrundlage des Menschen zu einigen wichtigen Rechtsentscheidungen und auf die mangelnde Sorgfalt bei endgültigen Beschlüssen hin: „Das Wissen und die Kenntnisse, die ihr erworben habt, sind zu gering und reichen für Urteilsentscheidungen nicht aus“.[5]

Imam Sadiq[6] (a.) sagt: „Gott hat im Qur´an in zwei speziellen Versen seine Diener zur Achtsamkeit ermahnt. In dem einen Vers heißt es, dass sie es nicht legitimieren sollen (Legitimation), solange sie nicht über hinreichende Kenntnis darüber verfügen. In dem anderen Vers heißt es, dass sie es aber auch nicht zurückweisen und ablehnen dürfen (voreilige Zurückweisung), solange sie nicht ausreichende Kenntnisse darüber haben und solange sie nicht zu Wissen und Gewissheit gelangt sind.“

In einem Vers sagt Gott: „ ... Wurde nicht von ihnen die Verpflichtung des Buches entgegengenommen, sie sollen über Gott nur die Wahrheit sagen? ...“   (Heiliger Qur´an 7:169)

In einem anderen Vers spricht Er: „Nein, sie erklären für Lüge das, wovon sie kein umfassendes Wissen haben, und bevor seine Deutung zu ihnen gekommen ist ... (Heiliger Qur´an 10:39) 

  1. Traditionsliebe und Vergangenheitsbezogenheit

Aufgrund seiner Veranlagung wird der Mensch eine Idee oder eine Ansicht, die die Zustimmung früherer Generationen gefunden hatte, zunächst einmal akzeptieren, ohne sich die Gelegenheit zu geben, sie zu überdenken. Der Heilige Qur´an erinnert uns daran, das, woran die Vorväter geglaubt und was sie für wahr gehalten haben, erst dann zu billigen, nachdem man es mit dem eigenen Verstand hinreichend geprüft hat. Demjenigen, dem eure Väter vertraut haben, steht geistige unabhängig gegenüber.

Dazu heißt es in der Sure Baqara[7], Vers 170: „Und wenn ihnen gesagt wird: ‚Folgt dem, was Gott herabgesandt hat’, sagen sie: ‚Wir folgen lieber dem, was wir bei unseren Vätern vorgefunden haben.’ Wie? Auch dann, wenn ihre Väter nichts verstanden haben und nicht der Rechtleitung gefolgt sind?.“

  1. Personenkult

Ein weiterer Grund für das gedankliche Abirren ist der Personenkult. Große Persönlichkeiten der Geschichte oder Gegenwart beeinflussen aufgrund ihrer Popularität, die sie beim Volk genießen, dessen Gedanken, Meinungen, Entscheidungen und Willen. Sie beherrschen tatsächlich Gedanken und Willen der anderen in einem Maße, dass diese so denken und sich so entscheiden wie sie, und ihre geistige Unabhängigkeit und den eigenen Willen ihnen gegenüber verlieren.

Der edle Qur´an fordert uns zur geistigen Selbstständigkeit auf und bezeichnet das blind ergebene Befolgen von Berühmtheiten und Persönlichkeiten als Ursache beständigen Unglücks. Deshalb berichtet er wie folgt von den Menschen, die auf diese Weise in die Irre geraten sind und am Auferstehungstage sprechen werden: „Und sie sagen: ‚Unser Herr, wir haben unseren Herrschern und den Großen unter uns gehorcht, da haben sie uns vom Weg abirren lassen.’“

(Heiliger Qur´an 33:67)

[1] Vgl. dazu z.B. Heiliger Qur´an 10:36

[2] Heiliger Qur´an 17:36

[3] Verlauf der Philosophie in Europa Band 1

[4] Der Stern, 53. Sure

[5] Sinngemäß interpretiert aus 17:85: „Und sie fragen dich nach dem Geist. Sprich: Der Geist ist vom Befehl meines Herrn. Und euch ist vom Wissen nur wenig zugekommen.“

[6] Der sechste Imam der zwölf Imame

[7] Die Kuh, 2. Sure

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