Mensch u. Glaube

Mensch und Glaube

Ayatollah Morteza Motahhari

Inhaltsverzeichnis

Wie sind diese Ziele entstanden?

Der Mensch, der seiner Herkunft nach ein Tier ist und infolge seiner Kultivierung zum Menschen heranreift, mit anderen Worten, dessen Veranlagung Schritt für Schritt auf Grund seiner Lernfähigkeit und im Scheine des Glaubens entwickelt wird, bewegt sich wesensgemäß auf seine natürlichen, tierischen, individuellen, materiellen und egoistischen Ziele zu und wendet entsprechend seiner Entwicklung seine Hilfsmittel an. Es bedarf hierzu einer Kraft, die für ihn nicht Mittel und Ziel ist, sondern die ihn als Mittel zum eigenen Zweck antreibt, einer Kraft, die ihn von innen her motiviert und seine verborgenen Fähigkeiten aktiviert. Er benötigt eine Macht, die eine Revolution in seinem Inneren vollzieht und ihm eine neue Orientierung gibt. Das ist etwas, was durch die Wissenschaft und die Enthüllung der bestehenden Gesetzmäßigkeiten der Natur und des Menschen nicht erreicht wird.

Ein derartiger Impuls wird durch die Veredelung und das Heiligwerden einiger Werte im menschlichen Geist hervorgerufen, die durch eine Kette hoher Neigungen im Menschen entstehen. Diese wiederum werden durch das Universum und die Menschheit ausgelöst, welche weder in den Laboratorien noch durch Vergleiche und Beweisführung zu erreichen sind. Diese Feststellungen liegen außerhalb des wissenschaftlichen Bereiches, wie wir später erklären werden. Die Geschichte der Vergangenheit und Gegenwart hat gezeigt, welche Folgen die Trennung von Wissenschaft und Glauben mit sich brachte.

Dort, wo der Glaube ohne die Einbeziehung der Wissenschaft herrschte, wurden die humanitären Bemühungen in einer Weise praktiziert, die weder ein wesentliches noch ein gutes Resultat hatte, zuweilen Ursache für Fanatismus und Sturheit wurde und sogar manchmal zu schädlichen Auseinandersetzungen führte. Die zurückliegende Menschheitsgeschichte ist voll mit derartigen Geschehnissen. Dort, wo die Wissenschaft unter Nichtbeachtung des Glaubens herrscht, wie in manchen Gesellschaftsformen der heutigen Zeit, wird die gesamte wissenschaftliche Macht eingesetzt im Sinne des Egoismus, der Eigenliebe, des Verlangens nach mehr und nach Besserem, zur Ausbeutung, Unterjochung, für List und Täuschungsmanöver.

Die letzten zwei bis drei Jahrhunderte kann man als Epochen der wissenschaftlichen Kultur und der Flucht vor dem Glauben bezeichnen. Viele Gelehrte vertraten damals die Ansicht, dass alle Menschheitsprobleme anhand der Wissenschaft zu lösen seien. Jedoch hat die Erfahrung das Gegenteil bewiesen. Heute ist kein Philosoph mehr anzutreffen, der das Bedürfnis des Menschen nach irgendeiner Glaubensform leugnet. Selbst wenn es sich um einen nichtreligiösen Glauben handelt, so liegt dieser doch in jedem Fall außerhalb wissenschaftlicher Grenzen.

Bertrand Russel gibt trotz seiner materialistischen Einstellung zu, dass eine Sache, deren Zweck nur im Profit beruht, kein sinnvolles Resultat haben wird. Um dennoch ein sinnvolles Ergebnis zu erreichen, müsse etwas unternommen werden, das den “Glauben“ an eine Person und an einen Plan koppelt und ein Endziel beinhaltet[1].

Ebenfalls haben die Materialisten heutzutage keinen anderen Ausweg, als zu behaupten, dass sie philosophisch betrachtet Materialisten und vom ethischen Aspekt her Idealisten seien, das heißt, dass sie vom theoretischen Gesichtspunkt her gesehen materialistisch und aus der Sicht der Praxis und entsprechend ihrem Ziel idealistisch seien[2]. Wie aber könnte es möglich sein, das der Mensch vom Theoretischen her materialistisch und vom Praktischen aus betrachtet idealistisch ist? Doch dieses Problem müssen sich die Materialisten selber beantworten.

Georg Sarton[3], der weltbekannte Gelehrte und Autor des berühmten Buches “Geschichte der Wissenschaft“, beschreibt in dem Buch “Sechs Flügel“ die Unzulänglichkeit und Unfähigkeit der Wissenschaft zur Herbeiführung humaner, zwischenmenschlicher Beziehung und das dringende Bedürfnis des Menschen nach der Kraft des Glaubens in folgender Weise: „In der Wissenschaft wurden in mancherlei Hinsicht große und beachtenswerte Fortschritte geleistet. Jedoch auf anderer Ebene, beispielsweise in der nationalen und internationalen Politik, die ja abhängig ist von zwischenmenschlichen Beziehungen, verspotten wir uns selbst.“ Georg Sarton bekennt, dass der Glaube, den der Mensch benötigt, der religiöse, gottes­ehrfürchtige Glaube ist. Bezüglich des menschlichen Bedürfnisses nach dem Dreieck Kunst, Religion, Wissenschaft, sagt er: „Die Kunst enthüllt uns die Schönheit, darum ist sie die Quelle der Lebensfreude. Die Religion schenkt Liebe und ist die Musik des Lebens. Die Wissenschaft steht mit der Gerechtigkeit, der Wahrheit und dem Verstand in Verbindung und ist die treibende Kraft für die Vernunft der Menschheit. Wir benötigen alle drei dieser Dinge, die Kunst wie auch die Religion und ebenso die Wissenschaft. Unbegrenzte Wissenschaft ist für das Leben erforderlich, jedoch keinesfalls ausreichend.“

[1] vgl. dazu Bertrand Russel: Ehe und Moral

[2] vgl. Georg Publizer: Einführung in die Philosophie

[3] George Alfred Leon Sarton (1884-1956) war ein in Belgien geborener US-amerikanischer Wissenschaftshistoriker.

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