Der Sack des Kadhi
Zur Zeit der ummayadischen und später
abbasidischen Kalifen hatten die Herrscher meist nur wenig
Kenntnis vom Islam, so dass sie einen Hofgelehrten und einen
obersten Richter, einen Kadhi beschäftigten. Davon stammt auch
der deutsche Begriff „Kadi“ ab. Jene obersten Richter
zeichneten sich in den Legenden, die den jeweiligen
Gewaltherrscher als „gerecht“ darstellen wollten, dadurch aus,
dass sie auch gegen ihn urteilten, wenn es sein muss. In der
Realität sah es aber oft anders aus. Rückert stellt diese
Legenden im Rahmen der Problematik dar, vor der die Richter
standen.
Ben Beschir,
dem Kadhi, klaget
Eine arme Witwe laut,
Unrecht sei ihr widerfahren
Von der Gläub’gen Oberhaupt.
Zur Erweiterung seiner Gärten
Hab’ er teuer aufgekauft
Ringsum alle Nachbarsgüter,
Aber ihr, weil sie zum Kauf
Ihres ihm nicht lassen wollte,
Hab’ er’s mit Gewalt geraubt.
Rasch entbrennt des Kadhi’s Eifer,
Dass die Unbill sich erlaubt
Der Chalif; doch ihn zu strafen,
Wer ist, der sich das getraut?
Schnell dem Esel aus dem Stalle
Leget er den Sattel auf,
Mit dem leeren Sack am Halse
Spornt er g’radwegs seinen Lauf
Nach den Gärten, wo der Herrscher
Eben steht vorm Sommerhaus,
Das er auf dem unrechtmäß’gen
Grund des Witwenguts erbaut.
Über Sack und Esel seines
Kadhi’s ist der Fürst erstaunt,
Mehr noch, als vor ihm zu Boden
Der sich wirft und bittet laut,
Dass er füllen dürfe seinen
Sack hier mit des Bodens Staub.
Als er nun den Sack gefüllet,
Sprach er: Fürst, heb’ ihn mir auf!
Willig will der Fürst sich bücken,
Aber schwerer, als er glaubt,
Ist der Sack; da sprach der Kadhi:
Kannst du nicht dies Stäubchen Staub tragen
Am Gerichtstag, wo aufs Haupt
Gott dir wird das Unrecht legen,
Das du deiner Macht erlaubt!